Einst kam eine Seele auf diese Welt- eine von vielen, ganz so, wie es auf dieser Welt alle paar Minuten geschieht. Oder sind es sogar Sekunden?
Diese Seele war endlos frei, voller Neugier, offen und gespannt auf das Abenteuer Leben in einem Körper. Sie war guter Dinge, dass sie alles meistern würde, was sie sich vorgenommen hatte- schließlich war sie wahrlich groß und unermeßlich.
Und weise.
Sie wußte, dass alles, was sie im Lichte ihres unermeßlichen Seins anschauen würde und was nicht wahrhaftig war, zu Staub zerfallen würde.
Und sie wußte, dass das ihre Liebesgabe an die Erdenwelt sein würde- denn das war, was viele Menschen, die dort inkarnieren, brauchten.
Und alles, was sie erlöste, erlöste sie auch für jene, die vor ihr kamen und jene, die nach ihr kämen.
Und so hatte sie sich eine Menge vorgenommen.
Doch schon in dem Moment, als sie unsanft aus der Geborgenheit des Mutterleibs herausgerissen wurde und den Weg in die physische Welt antrat, packte sie das Grauen und sie wurde gewahr, dass das Letzte was sie wollte, war, in diese Welt des Leids und der Schwere hineingeboren zu werden.
Aber es war zu spät.
Verzweifelt wehrte sie sich, um nur ja jenes Ungemach nicht durchmachen zu müssen, dessen volles Ausmaß sie gerade erst zu begreifen begann.
Was hatte sie sich alles vorgenommen! Was würde alles über sie hereinbrechen!
Und das erste Gefühl, das fortan für lange Zeit nicht mehr von ihrer Seite weichen sollte, war: Verzweiflung.
Gefolgt von Ohnmacht.
Denn so sehr sie sich auch weigerte- sie wurde von der warmen Umhüllung in die grelle, kalte Welt gestoßen, wo sie fortan vor sich hinkümmern sollte.
Niemand war da, der sie liebevoll und freudig willkommen hieß, der ihren Namen ehrte und ihr die Schönheit dieser Welt zeigte.
Da war nur Schmerz.
Und dies war erst der Anfang.
Gleichwohl- sie wollte Frieden in diese Welt bringen.
Und sie wollte frei sein, wollte beweisen, dass es möglich war- in einer Welt, die aufgebaut war auf der Unfreiheit von Milliarden Menschen, die gefangen waren in einem Wirrwarr aus Wünschen, Begierden, Widerständen und Schmerz.
Die aus Schmerz bestand- und soviel Schönheit.
Aber die lernte sie erst viel später kennen.
Sie wollte gründlich sein, daher hatte sie für eine Menge Schmerz und Lieblosigkeit gesorgt und es hatte bestens funktioniert- schließlich war sie ein machtvoller Schöpfer.
Gelähmt von all dem Schmerz vergaß sie jedoch.
Vergaß, dass sie es so gewollt hatte.
Dass es möglich war, tiefste Dunkelheit, Dämonen und größtes Leid zu manifestieren, nur um schließlich vollkommen frei und unbehelligt daraus emporzusteigen.
Und dass sie all das durchmachen wollte und mußte, um das nötige Mitgefühl und Verständnis für ihre Brüder und Schwestern aufzubringen- und damit sie jene, die bereit waren, zu wachsen, von jenen zu unterscheiden vermochte, deren Schmerz und Angst noch zu groß waren. Die sich lieber hinter Urteilen und Denken versteckten.
Und auch sie zu verstehen.
Und als der Schmerz und die Pein zuviel wurden, als sie ihn nicht mehr tragen konnte und sich unendlich einsam und verloren und gebrochen in einer, riesigen, endlosen Welt fand, die nur aus Pein, Zwang und Ungemach zu bestehen schien, da tat sie das, was ihr der einzige Ausweg schien:
Sie vergrub diesen Teil, dessen Schmerz sie nicht mehr fühlen wollte und konnte.
Ganz tief.
Irgendwo in sich, wo er fortan im Dunkeln sein Dasein fristete, ungesehen und ungehört.
Und sie baute eine Festung darum.
Was zuviel war, war zuviel.
Das Leben ging seinen Lauf und sie lief mit, so gut sie es vermochte.
Das war mehr schlecht als recht, doch was sollte sie tun.
Es gab nichts, was sie begeisterte, sie mit Freude erfüllte, und wenn, dann nur kurzzeitig.
Immer war da dieses Gefühl von Leere, von Sinnlosigkeit, das alles überschattete.
Es hatte nie jemanden gegeben, der sie auffing, ihr erklärte, dass alles gut sei, wie es ist, dass alles genau so sein sollte und musste und der ihr Trost spendete.
Die Menschen, die sie Eltern nannte, waren mit ihren eigenen Herausforderungen und Aufgaben beschäftigt- die freilich ganz ähnlich den ihren waren.
Allein.
Immer.
Auch wenn Menschen um sie waren.
Es gab nichts, was sie tun wollte, nichts, was es ihr wert schien, es zu erreichen.
Sie sah all die anderen, die ihren Weg gingen, dies und das lernten, Beziehungen führten, Familien gründeten, ein Haus bauten und ein „normales“ Leben führten.
Sie aber war mit niemandem verbunden und an der Normalität reizte sie nichts.
Gleichwohl versuchte sie es wieder und wieder- nur um sich dafür zu hassen, dass offensichtlich etwas mit ihr nicht stimmte.
Dass sie nicht „normal“ war.
Ab und an fand sie eine andere Seele, die ihr Trost spendete und ein wenig Geborgenheit, aber mehr war es nicht.
Konnte es nicht sein.
Und immer wieder zog es ihr den Boden unter den Füßen weg und sie war nicht mehr in der Lage, überhaupt irgendetwas zu tun.
Aufstehen wurde zur Qual, ebenso wie sich zu einer Arbeit zu schleppen, die ihr vollkommen egal war und mit Menschen zu kommunizieren, wo sie doch nichts mehr wünschte, als einfach nur dazuliegen, vergraben in die warme Hülle einer Decke, die ihr wenigstens etwas Geborgenheit schenkte.
Und während sie sich dergestalt durch das schleppte, was man gemeinhin „Leben“ nannte, machte sie eines Tages eine Entdeckung.
An besonders dunklen Tagen konnte sie ein schwaches Glimmen ausmachen, etwas leuchtete dort, ganz zart und schwach, ein Funke, undeutlich zunächst, aber umso klarer werdend, je mehr Aufmerksamkeit sie ihm schenkte.
Da war etwas oder jemand.
In ihr.
Etwas, das sie magisch anzog und solch eine Wärme und Liebe ausstrahlte, dass nichts in der Welt ihm gleichkam.
Da waren so viele Verlockungen in dieser Welt, Verlockungen, die ihr zuflüsterten:
Hier geht es lang! Das brauchst du! Das ist die Lösung- ganz sicher!
Aber da war dieser Funken in ihr- und sie wußte mit absoluter Gewissheit, dass DORT ihr Weg lag.
Oh- sie ließ sich versuchen.
Viele, viele Male.
Aber jedesmal, wenn sie einer Versuchung erlag, war es nur eine Bestärkung, dass es jener Funke war, dem sie folgen mußte.
Dass der Weg dort IN ihr war.
Sie ging ihrer Wege, setzte sich, so gut sie es vermochte, mit den Anforderungen des Lebens auseinander und schaffte es mit größter Mühsal, zu existieren.
Alles war endlos anstrengend und es gab so viele Tage, da sie sich bei der Arbeit in irgendeinen Winkel verkriechen musste, wo keiner sie finden würde und einfach nur die Augen schließen und wegdämmern. Ganz kurz nur…Oder in der Straßenbahn. Oder….ah, welch eine Wohltat. In Morpheus Arme flüchten und sich auffangen lassen. So wenig Energie…sowenig.
Und an so vielen Tagen war da der Gedanke, einfach aufzugeben. Der Mühsal ein Ende zu bereiten. Für immer schlafen…
Und sie wurde krank.
Und in ihrem Körper wuchs neues Leben heran, doch sie konnte sich selbst kaum halten und wies es ab.
Kein Raum.
Kein Raum.
Aber da war jener Funke- der langsam und stetig zu einem Leuchten wurde.
Der ihr von Tagen voller Licht erzählte, die auf sie warten würden.
Der sie mit Liebe überschüttete, so sehr, dass Tränen liefen.
Und der sich soviel WAHRER anfühlte, als die Dunkelheit und Schwere.
Irgendwann konnte sie mit ihm sprechen.
Und sie hörte gebannt zu.
Ja- SO war es!
Ganz bestimmt.
Und sie begann, sich zu erinnern.
Zögerlich, ganz langsam und allmählich.
Sie verschlang Bücher um Bücher- allesamt handelten sie von der Macht des Bewusstseins, von Schöpfertum und Liebe.
Von dem, was die Stimme in ihr erzählte.
Und immer wieder kam sie vom Weg ab, verlor sich irgendwo in der Welt, nur um anschließend umso überzeugter dem Leuchten in ihr zu folgen.
Denn alles Suchen im Außen mündete stets- in einer Sackgasse.
Aber wie um alles in der Welt sollte sie je diese zwei Welten verbinden- die äußere, die ihr soviel Ungemach bereitete und die ihr so leer und sinnlos schien und die innere, wo jenes Leuchten ihr sanft, aber bestimmt den Weg wies?
Sie schienen unvereinbar.
Ihr äußeres Leben war ein einziges Desaster. Sie hatte nie genug Geld- denn es kostete sie so ungemein viel Kraft, es zu verdienen. Und wenn sie welches hatte, gab sie es aus für all die Wünsche und Bedürfnisse, die ihr das Leben erträglicher gestalteten: schöner Tand, der sie kurz vergessen ließ.
Jemand überredete sie, einen Kredit aufzunehmen, damit sie sich noch mehr schönen Tand kaufen konnte und sie tat es- denn es war nie genug, um die Leere zu füllen.
Dann waren da männliche Wesen- sie gaben ihr reichlich Bestätigung, dass sie gut war, wie sie war. Denn sie war hübsch. Und manchmal sogar lustig.
Eine zeitlang war das angenehm.
Aber nur eine zeitlang.
Denn die Leere kam immer zurück.
Und egal, was sie auch tat- und sie tat so einiges, oh ja- sie wich nicht von ihr.
Mittlerweile hasste sie diese Leere- und sie hasste sich, weil sie unfähig war, die Leere zu besiegen und zu funktionieren.
Die einfachsten Dinge hinzubekommen, wie für sich zu sorgen- und für das zweite Kind, das bleiben durfte.
Schließlich fand sie, was man in der spirituellen Szene „Erwachen“ nannte- doch die Leere war noch immer da.
Das Leuchten war mittlerweile zu einem Leuchtfeuer geworden und vieles, vieles war darin verbrannt.
So vieles.
Soviel Tränen geflossen.
Ganze Ozeane.
Sie fand heraus, wer sie wirklich war, woher sie kam und wohin sie zurückkehren würde.
Jenes göttliche Wesen, das sie einst war, bevor sie diese Welt betrat, erinnerte sich seiner.
Und sie badete darin, badete in seiner Essenz und wurde weiter und weiter.
Alles Schwere, alle Dunkelheit verlor sich darin, schmolz dahin in diesem Leuchtfeuer.
Sie fand alles das, was Leben so endlos lebenswert macht, das Entzücken eines fühlenden Körpers, die göttliche Ekstase der Auflösung des Ichs und soviel mehr.
Welten.
Welten voller Freude und endloser Liebe.
Und sie verlor sich darin.
Lange.
Es war der Ausgleich für all das, was sie davor erlebt hatte.
Menschen kamen zu ihr, angezogen von ihrem Leuchten und fragten sie nach dem Weg.
Allein- sie hatte den ihren noch immer nicht gefunden.
Etwas fehlte und sie wußte es.
Denn noch immer war jene Leere in ihr immer wieder präsent- und so wundervoll es auch war, im göttlichen zu schwelgen- sie hatte nie gelernt, im Mensch-sein zu schwelgen.
Denn im Mensch-sein wartete nichts als Kleinheit und Schmerz auf sie.
Sollte es doch warten!
Dem Göttlichen in ihr war alles das, was Menschen in der Welt taten, gleich gültig.
Es sah das Gesamtbild- und das Bild war immerwährender Frieden. Unangetastet von den Belangen dieser Welt.
So oder so.
Nichts zu tun.
Dem Mensch in ihr war alles das, was Menschen in der Welt taten, viel zu groß und unerreichbar.
Er sah ein winziges Fragment des Bildes und das Bild war Sinnlosigkeit und Mühsal.
Sovieles, was man tun müsste, doch gar nicht wollte.
Jedoch- es war gut so.
Durfte sein.
Sie hatte gelernt, dass Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht und dass alles sich zur rechten Zeit offenbarte.
Der Samen war gepflanzt und sie hegte und pflegte den zarten Keim.
Den Samen des Mensch-seins.
Nichts war wichtiger.
Sie hatte wenig und doch das wichtigste, nach was es sie je verlangte:
Frieden.
Immer wieder erzählten ihr andere, was sie doch alles tun und haben könnte, lockten mit diesem oder jenem, um diverse „Ziele zu erreichen“.
Sich zu „verbessern“, „weiterzuentwickeln“ oder xy zu haben.
Für letzteres war sie sehr anfällig, war es doch exakt das, was man ihr beigebracht hatte, worauf es in der Welt ankam.
Wenn man nämlich genug Geld hatte, konnte man sehr viel Unangenehmem aus dem Weg gehen.
Und sich bestens ablenken von etwaigem Ungemach.
Gleichwohl- sie hatte nie genug Geld, um dem Ungemach zu entfliehen.
Denn natürlich sorgte sie selbst dafür, auf schnellstem Wege ihr Ziel zu erreichen- maximale Freiheit.
Und dafür mußte sie durch alles Ungemach, was sie selbst sich je aufgeladen hatte.
Und das war immens.
Sie begriff, dass es manchmal unabdingbar ist, nicht zu bekommen, was man sich ersehnt- weil sich nur so jener tiefste Schmerz offenbart, den der scheinbare Mangel mit sich bringt.
Und nicht etwa weil es nicht vollkommen in Ordnung sei, sich etwas zu wünschen und es sich zu gönnen- oder nach etwas zu streben.
Das einzige jedoch, nach was sie strebte, war Freiheit, die Freiheit eines göttlichen Wesens, das eine menschliche Erfahrung macht und damit nicht nur vollkommen in Frieden ist, sondern erfüllt davon.
Und langsam, ganz langsam, zart wie ein Schmetterlingsflügel, begann sich jenes Mensch-sein zu entfalten, sich zu offenbaren.
In Kunst und Schreiben drückte sich das große, ewige Göttliche durch jenen vergänglichen und genau deswegen so endlos kostbaren Menschen aus.
Ein Wesen, das vor dem Wunder eines Grashalms oder einer Schneeflocke niederkniete und sich selbst schlußendlich als größtes aller Wunder erfuhr- so wie es einst erdacht worden war.
Der Schmerz jenes Teils aber, der einst vergraben, versteckt und zugemauert worden war, wurde durchweg wieder und wieder wachgerufen- nie wurde das Leben müde, sie daran zu erinnern, dass es ihn gab und jedesmal war der Schmerz kaum zu ertragen und der Verstand ersann immer wieder erneut Möglichkeiten, ihm auszuweichen.
Man müßte…
Aber es funktionierte nicht.
Nie.
Aber jedesmal war er ein wenig schwächer, ein wenig nur.
Und das Licht und der Frieden und das Wunder wurden größer.
Stärker.
Und dann, eines Tages, als sie sich schließlich vollkommen damit abgefunden hatte, dass die Leere sie für immer begleiten würde und dass das vollkommen in Ordnung sei, brach jener Teil, der einst vergraben worden war, hervor.
Jener Teil, der aus nichts als Angst und Grauen bestand, aus Mensch-sein, das irgendwo im Dunkel eines endlosen, furchterregenden Kosmos schwebte, vollkommen allein und sich selbst überlassen.
Und endlich konnte sie stehenbleiben.
Rannte nicht mehr davon.
Blieb einfach stehen.
Weil sie es konnte.
„Ich sehe dich“.
Neugeborgen.
Und es ward Licht.
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