Es ist morgens früh, 8 Uhr. Ich komme gerade beschwingt vom putzen und betrete die Küche, einen maunzenden, hungrigen Kater im Schlepptau.
Beschwingt deswegen, weil heute Fenster putzen dran war- und ich irgendwie abgespeichert habe, dass Fenster putzen echt doof ist, aber eines besseren belehrt wurde.
Missmutig hatte ich mich mit Teleskop-Fensterputzer und Wassereimer bewaffnet, um den dreckstarrenden Scheiben zu Leibe zu rücken.
Und siehe da: zu meinem Erstaunen hat es sogar Spaß gemacht.
Draußen war ein wunderschöner Frühlingstag, es war morgens um halb 8 und Samstag, so dass die Gefahr, sich übers Wetter oder sonstige lebensverändernde Umstände unterhalten zu müssen, gleich null war- das gut besuchte Gemeindeamt ist direkt neben dem Gasthaus-Eingang, dessen Rauchfang ich zu putzen beabsichtigte.
Und nichts lieben die Leute hier mehr, als einen guten Schwatz.
Und nichts geht mir mehr auf den Zeiger, als wenn ich morgens schon palavern muss.
Darum also: freie Fahrt beim Fenster putzen.
Die plustrige Bürste in die schaumigen Fluten und ab auf die Scheibe.
Es hat geschäumt, dass es eine wahre Freude war und hernach mit diesem Abzieh-Dings auf der Rückseite das Wasser abziehen- und das war interessanterweise etwas total befriedigendes.
Vielleicht sollte ich eine späte Karriere als professioneller Fensterputzer in Betracht ziehen.

Zurück in der heimischen Küche:
Mein Blick fällt auf das Spülbecken und die zu erwartenden, ungespülten Geschirrberge- aber nein, der Tinätscher hat brav alles weggespült.
Wohl denn.
Da fällt mir auf, dass das Geschirr-Spülmittel, das gestern noch leuchtend pink war- „Himbeere“ nämlich- plötzlich durchsichtig und farblos ist.
Huh?
Wo sind die Himbeeren auf einmal hin?
Ich überlege, ob es sich um einen neuen Trend handelt: Farbwechsel-Geschirrspülmittel.
Allerdings ist die Farbe ja weg.
Ich bin etwas irritiert, wende mich aber der Zubereitung meiner morgendlichen Tasse Jasmin-Tee zu.

Während ich herumhantiere, lasse ich meine Gedanken schweifen.
Genau wie beim putzen.
Oder beim gärtnern.
Oder beim spazierengehen.
Ich denke so gut wie nie aktiv über etwas nach- etwas taucht in meinem Gewahrsein auf, was ich interessant finde.
Und dann umkreise ich den Ein-Fall und untersuche ihn von verschiedenen Blickwinkeln.
Ah- ein interessanter Aspekt: den will ich genauer ins Visier nehmen.
Was gibt es hier spannendes zu entdecken?

Das ist das genaue Gegenteil dessen, was der konditionierte Verstand zu tun pflegt:
alles, woraus er ein Problem erschaffen kann, ist ein gefundenes Fressen.
Zum Beispiel Fenster putzen.
Oder Streifen am Himmel, wer warum wie gewählt wurde, was der unwissende Depp von Möchtegern-Guru jetzt schon wieder schreibt und Impfungen gegen was auch immer.
Ich weiß das, weil ich quasi mit der Muttermilch eingesogen habe, dass das Leben ein Problem ist, das es zu lösen gilt.
Und tatsächlich- wen wunderts- war Leben auch immer ein Problem für mich, ein ziemlich unlösbares, überwältigendes und zutiefst schmerzhaftes.
Was hab ich alles an Büchern gelesen und mir endlos Texte und Techniken von Hunz und Kunz reingezogen, um mich selbst zu therapieren, weil ich ja ganz offensichtlich ein Problem war und hatte.
Der Schmerzkörper musste weg, das Ego transformiert und all die hinderlichen Glaubenssätze aufgelöst werden.
Erwachen war Ziel Nummer eins, gefolgt von glorreicher Erleuchtung und Glückseligkeit.
Oh du meine Schattenarbeit, geheiligt werde dein Name, praktizieren werde ich dich bis zum umfallen und dein Reich ist Licht und Liebe.
Würg.

Dann kam der Tag, der alles veränderte:
Ich bin wirklich aufgewacht.
Hab mir erstaunt die Augen gerieben und festgestellt:
Einen alten Scheiß muss ich.
Und- oh Wunder:
ALLES ist in bester Ordnung.
Allem voran ich selbst.
Selbst das, was nicht in Ordnung ist.

That’s it.
Das wars.
Ob die Himbeeren verschwunden sind, das Welten-Kasperle-Theater zum hunderttausendsten Mal durchdreht, ich Fenster putzen mag oder nicht mag, Trump oder die AFD doof finde, mich wochenlang körperlich gräßlich fühle und mich am liebsten in der Erde verbuddeln will oder in China ein Sack Reis umfällt:
Alles ist in allerbester Ordnung.
Selbst die mieseste scheinbare Un-Ordnung.
Die, die wirklich schwer zu ertragen ist.
Zum Beispiel sich richtig, richtig doof zu fühlen und nicht zu wissen, warum.
Etwas partout (noch) nicht sehen oder tun können, obwohl man es seit Jahren mit sich rumschleppt.
Arschlöcher, die Schönes zerstören und Schlechtes als Gutes hinstellen.
Menschen, die einem einreden, dass man nicht in Ordnung ist, weil sie sich selbst nicht in Ordnung finden.
Und noch einiges mehr, was uns auffordert, Stellung zu beziehen und unser Trauma des nicht-in-Ordnung-seins mit Mitgefühl und Güte zu betrachten, statt ein Drama draus zu machen.

Und was aufwachen auch noch mit sich bringt:
so klar wie Kloßbrühe zu sehen, dass wir allesamt wegen exakt demselben hier sind:
Lieben lernen.
Egal, wiesehr sich ein ungeliebtes Ego auch verzetteln mag und Gott-weiß-was anstrebt, um sich endlich bedeutend zu fühlen:
Du bist längst in Ordnung.
Mehr als das.
Und ich kann dir versichern: wenn du mal für einen Moment vergisst, dich in Ordnung bringen zu wollen, dann siehst du es:
Wunder.
Allenthalben.

Und ich, ich geh jetzt Himbeeren suchen.

Innenseiter
💗

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